Lebe wild …!

Im Radio hörte ich die Aufforderung:

„Lebe wild und unersättlich!“


Es war eine Art athe­is­tis­ches Wort zum Son­ntag. Gibt’s ja auch. Ist mir aber etwas neg­a­tiv, „un-ersät­tlich“ – hat was von intern­er Tan­ta­lusqual: man hat alles, wird aber nie satt! Eine Göt­ter­strafe! Soll halt den Kon­sum ankurbeln. Also, wie denn nun – wild ?

Wild exzessiv

Eine Vari­ante, die ich auch schon mal hörte: „Lebe wild und exzes­siv!“ Es gibt min­destens 11 mögliche Über­set­zungsmöglichkeit­en für exzes­siv. Ursprünglich hieß es im Lateinis­chen schlicht excedere  „her­aus­ge­hen, über­schre­it­en“. Her­aus­ge­hen aus der Zivil­i­sa­tion, die Norm über­schre­it­en – echt cool! Wilde Tiere brauchen jedoch nichts zu über­schre­it­en. Und „Wilde“, die sich fra­gen, welche Norm sie über­schre­it­en (um unbe­d­ingt auch exzes­siv zu sein), sind eher kopfig.

Tiger-im-RahmenIm ersten Moment klingst’s gut: „Lebe wild!“ Ermunternd, so rein intu­itiv, aber dann, wenn man anhebt, es ver­wirk­lichen zu wollen, kom­men dem erzo­ge­nen Zivil­i­sa­tion­s­men­schen die Fra­gen und Schluss ist mit dem Träum­chen und alles bleibt im Rah­men des Mottos:
Bleibe intu­itiv!

Wild ruhen

Tiger kön­nen ja recht grausam sein, wenn sie jagen – dann erscheinen sie beson­ders wild. Aber nach dem Mahl dösen und schlum­mern sie eher gerne, wie die meis­ten Fleis­chfress­er; sie trinken ja keinen Cap­puc­ci­no hin­ter­her – oder Alko­hol neben­her, der sie so betört, dass sie gar nicht mehr ruhen wollen.
Wenn sie nicht jagen müssen, jagen sie nicht!
Wir als Men­schen braucht­en noch nie unbe­d­ingt zu jagen, wir hat­ten immer auch die Möglichkeit zu sam­meln, später anzubauen und heute müssen die wenig­sten Men­schen dafür direkt rackern.

„Lebe wild“ kön­nte also heißen: „Ruhe mehr und jage nicht hin­ter etwas her, was du nicht wirk­lich brauchst!“ Ja, döse und schlum­mere lieber, als irgen­deinen Mist zu verzapfen. „To do less is more“ und „Wer schläft, der sündigt nicht“ sind weise Worte. Es wird über­all geunkt, dass Arbeit im Zuge der dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion knapp wird: wer hätte das gedacht – neue Chan­cen, wild zu leben!

Wilde Dönsgens

Soll­ten manche jet­zt ent­täuscht sein über so ein lahmes wildes Leben – get­rost, wir sind Pri­mat­en und die haben das Affenthe­ater entwick­elt. Auch das ret­tet uns heute – zu Zeit­en der dig­i­tal­en Rev­o­lu­tion: wir kön­nen immer noch The­ater spie­len, kreativ sein, immer neue Prob­leme erfind­en, meck­ern und unzufrieden sein, rumkreis­chen, die anderen pieken, Rangkämpfe ver­anstal­ten, die anderen ent­lausen, auch wenn gar keine Läuse da sind, ein­fach so aus Sym­pa­thie und aus Energieüber­schuss. Ja, bei den Affen gibt es einen Energieüber­schuss, der nicht direkt in die Ver­bre­itung der Art gesteckt wird, son­dern in Dönsgens.

Neh – auch nicht das Wahre? Ich soll mich jet­zt doch nicht an der „wilden“ Natur ori­en­tieren, son­dern an den kul­turellen Bildern von Wild­heit, wie im Wild­west­film oder beim „Wilden Mann“ der Tarotkarten?
Wenn man da das Getöte rauszen­siert bleibt nur das Ballern übrig, etwa auf Blech­dosen, und der wilde Mann ist qua­si auf ein Stück Pappe genagelt, samt zerzaustem Bart und durch­löchertem Hut.

Sym­bol­is­che Wild­heit gilt nicht.

Wild genießen

Nochmal zurück zur Natur; da ist noch was zu holen – bei den Krähen: sie lassen eine Nuss von der Lat­er­ne herun­ter­fall­en, damit sie auf­springt und sie an den Kern her­ankom­men. Im Kern ist für sie die meiste Energie enthal­ten, die Schale mit zu ver­dauen wäre nicht so ergiebig. Die wird dann später und langsamer von Würmern und Pilzen ange­gan­gen. Für die Krähe kommt das nicht in Frage; sie ken­nt sich da aus, sie ist Energieken­ner­in. Das wäre Wild­heit: jede Art weiß genau, was gut für sie ist, ihr gemäß ist – instink­t­mäßig, was immer das heißt jen­seits von: „Sie ken­nen sich aus“. Für den Men­schen kön­nte man sagen:

Sein Genussempfind­en (eine Art instink­tiv­er Steuerung) müsste ihm nur das für ihn Gedeih­liche empfehlen. Wild­heit: darauf acht­en, was einem gemäß ist, so lange und kon­se­quent, bis das Acht­en selb­st zu einem Genuss gewor­den ist. Puh – wieder nix mit Wild­heit­sro­man­tik! Aber auf diese Art von unspek­takulär­er Wild­heit soll­ten wir nicht verzicht­en!

Irgend­wie muss es aber doch zum Kuck­uck nochmal das echte tolle wilde Leben geben, das wir alle erah­nen und ersehnen, wenn wir obige Ermunterung hören?!

Wild üben

Man muss anderen Wesen die Grausamkeit über­lassen, sie tut uns «naturgemäß» nicht gut. Von den Tigern kön­nten wir den weichen Gang geschmei­dig stark­er Schritte übernehmen, weil er uns fasziniert, die absolute Präsenz im Fluss der Bewe­gung – das ist für uns aber kein pas­siv­er Film­genuss son­dern eine Übungsauf­gabe; denn Pri­mat­en bewe­gen sich eher leicht­füßig, tänzel­nd – aber das wär ja auch schon mal was!

Ja, tanzen ist uns gemäß – wie mit unseren Hän­den wie wild zu handw­erkeln. Werkeln, werkeln, werkeln, auch Döns­gens – das ist urtyp­isch men­schlich. Bewe­gungsarten mit Hand und Fuß: Klet­tern, Hand­ball, Staffel­lauf, und – oh Wun­der – die Selb­stvertei­di­gungs­diszi­plinen. Und all das je freier und unkon­ven­tioneller desto wilder, so, wie im jew­eils erträumten Sinn.

Insofern wir die Energieop­ti­mierung als wild aus­gemacht haben, war schon von Kraft die Rede – eigentlich ist wild und kräftig das Selbe, alles aber eben fein optimiert.

Die wilde Kraft ist fein opti­miert! Tai Chi ist wild!

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