die Alchemie des latenten Alltagschauvinismus
Die Nachrichten der vergangenen Wochen – die schlechten – haben mich doch irgendwie daran gehindert, mit dem Bloggen einfach so themafokussiert fortzufahren. Die hämischen, chronisch meckerigen Kommentare im Internet, und ein Erlebnis in der Stadt mit einem Fahrradfahrer: voilà, hier ist er, der Artikel zum Alltags-Chauvinismus. (nicht zum Fremdenhass, Extremismus – Begriffe, die augenblicklich mehr in der Diskussion sind) Er ist auch keine sozialpsychologische Untersuchung, kein politisches Bekenntnis, sondern ein Verständnisversuch eigener Alltags-Erlebnisse –
in Berlin:
Ich winke ein Taxi heran und ein Fahrradfahrer überschüttet mich und den Taxifahrer mit einer Hasstirade, weil der so neben dem Fahrradweg hält, dass ich dem Fahrradfahrer den Weg versperre, als ich die Tür öffne um einzusteigen. Er schlägt mit der Hand gegen das Taxi und bequemt sich erst, etwas zurückzusetzen, als er merkt, dass ich die Tür wegen seines Vorderreifens nicht schließen kann. Ganz spontan pflichtete ich dem Taxifahrer bei zu seinem: „Das wird immer schlimmer mit den Fahrradfahrern.“ Obwohl ich ja auch Fahrradfahrer bin, wenn ich nicht gerade Taxi, Auto oder U-Bahn fahre. Irgendwie hörten wir dann noch so etwas wie ein wütendes „Ihr scheiß Taxifahrer“ hinter uns herrufen. Ich erinnerte mich an einen Artikel aus dem Spiegel über den «Kampf auf Berlins Straßen».
Szenenwechsel: Als angehender Jugendlicher schickte mich meine Mutter zum Uhrmacher, um eine reparierte Uhr abzuholen. Dessen Laden befand sich an einer lauten Verkehrsstraße und als ich eintrat wurde plötzlich alles ganz still – nur das leise Ticken der Uhren war zu hören. Im Hintergrund saß er, der Uhrmacher, mit seinem Okular im Auge über seinen Werktisch gebeugt, und hantierte, sonst vollkommen regungslos, mit seinen weißen Handschuhen an einer Reparatur herum. Auch irgendwie lautlos. Ich wurde selbst schon ganz still und vergaß mein Guten Tag. Ich dachte so etwas wie: „Das ist also unter deutscher Wertarbeit zu verstehen, jetzt ist mir das klar, das also ist Sauberkeit, Konzentration und Perfektion….ja, ja aber: muss man denn davon so blass werden? (Ich verstand unter „Arbeit“ Arbeiten) Ja selbst seine Stimme war leise aber dennoch präzise verständlich! „Was darf es sein?“ fragte er ungerührt.
20 Jahre später kam mir das seltsamer weise wieder in den Sinn, als ich mir in Berlin eine neue Uhrenbatterie holen wollte. Der Uhrmacherladen hatte gerade den Besitzer gewechselt: Özdemir hieß der jetzt! Na, ob die wohl Batterien haben? Ich öffnete die Tür und alles wurde sofort wieder gaaanz still und hinten im Laden saß er, der Uhrmacher mit einem Okular im Auge und über seinen Werktisch gebeugt….und ja, man wird offensichtlich blass von so einer Arbeit. „Ja natürlich haben wir Batterien“ sagte er ungerührt mit leiser aber präziser Stimme.
Inzwischen war mir ja schon längst klar geworden, dass Lehrer und Ärzte etc. durch und durch von ihrem Beruf geprägt sind – also auch Uhrmacher, aber dass sich deutsch oder türkisch als Unterscheidungsmerkmale dermaßen verflüchtigen konnten ….
► Daraus ergibt sich schon die wichtigste Zutat zum Alltags-Chauvinismus: die falsche Kategorie! Beim Uhrmacher ist der Beruf entscheidend, nicht die Nationalität. Auf die Fahrradfahrer bezogen geht das so: „die spinnen, die Fahrradfahrer mit Smartphone vor der Nase“ – ist keine Fehlleistung der Mobilitätsart sondern generell aller «Smartphonebenutzer im Verkehr», egal ob Fußgänger, Fahrradfahrer oder Autofahrer. Die Ursache des drohenden Desasters ist bei allen uhrmachergleich die Verantwortungslosigkeit, Unachtsamkeit im Umgang mit dem Smartphone.
► Mit der falschen Kategorie einher geht oft die Verallgemeinerung: d i e Türken, d i e Fahrradfahrer. Eine Konkretisierung wirft Fragen auf und wird kontrollierbar: ja, wie sind sie denn nun die türkischen Uhrmacher? Da hat man sie dann ja schon, die nächstmögliche genauere Kategorie, da könnte ja jemand schon mal selbst Erfahrung im eigenen Leben gemacht haben, was mit den Türken in ihrer Gesamtheit schlecht möglich ist. Und wenn man es auf d i e Fahrradfahrer schiebt, zu denen man jetzt gerade mal nicht „dazu gehört“, kann man das lächerliche Erlebnis verdrängen, dass man selbst schon mal – ins Smartphone oder sonst was vertieft – in die Hundescheiße getreten ist.
► Mit der Verallgemeinerung einher geht wiederum eine Bezugslosigkeit: Die Zahl der Immigranten ist mit der Alterspyramide in Bezug zu setzen. Der Sohn des alten Uhrmachers wollte lieber Theaterwissenschaft studieren. Bezüge haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie ein Wirkungs-Geflecht sichtbar machen, in dem der eigene Beitrag am gegenwärtigen Zustand deutlicher wird: wir sind nicht gerade Kinder freundlich. Ups! Da ist mir jetzt aber eine Verallgemeinerung passiert! Wer ist wir? Also: „Die Deutschen erscheinen heute, nach dem Pillenknick, durchschnittlich nicht mehr so kinderfreundlich wie in den 50er Jahren“ und „Smartphonenutzung im Verkehr ist bescheuert“ wären mögliche chauvinismusfreie Aussagen mit konkreter Kategorie und mit Bezug – unabhängig davon, ob sie dann schon eine Lösung formulieren oder eine abschließende Erkenntnis.
im Internet:
► Die Faktenschluderei wurde erstmals erschreckend deutlich, als im Internet die Kommentarfunktionen auf den Webpräsenzen der bekannteren Zeitungen in großem Maßstab ergriffen wurde. Beim Thema Impfungen z.B. werden 1000 Horrormeldungen über Nebenwirkungen ins Web abgelassen und den wissenschaftlich ermittelten Fakten entgegengestellt. Letztere sind falsch, weil: d i e Wissenschaft ist unmenschllich!
Man kann es nicht verwinden, dass Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang mit diesem einem Thema wissenschaftlich beschäftigen, zu exakteren Ergebnissen kommen als man selbst, und man ihnen vertrauen müsste. Dann ist besser alles nur noch profitorientiert. Die Arbeit, Fakten zu ermitteln!! Düster die Tatsache, dass im Moment bei den Printmedien, „Kulturträger knapp bei Kasse“, für die professionellen Faktenermittler anscheinend nicht immer genug Geld da ist. Düster auch, dass bei den Öffentlichrechtlichen trotz Betonung auf Unterhaltung die Kunden schwinden und somit die paar verbleibenden aufklärerischen Infoformate an Reichweite verlieren. Faktenschluderei?
Wobei wir dann bei der fast magischen Beschwörung von Misständen wären.
►Beschwörung von Misständen unter Berufung auf falsche und übertriebene Behauptungen: es macht auch einem selbst viel Arbeit, Fakten zu ermitteln, das erfordert schon eine gewisse Anfangskenntnis und führt ja auch nicht immer zu einem total sicheren Ergebnis. Also behauptet man etwas Passendes. Misstände schiebt man «denen da oben» in die Schuhe, also zu mindest schon mal anderen. Je weiter weg, desto besser (die Amerikaner, die Griechen…) da kann man dann wirklich selbst gar nichts verändern – wie praktisch. Das ist m.E. der Grund, warum gerade internationale Themen überhaupt so emotional diskutiert werden.
►Schuldzuweisung wälzt die Veränderungsarbeit auf andere ab. Das Wort Misstand hat selbst schon etwas Überindividuelles.
Die negative Stimmung und die Klagehaltung sind eine komfortable Alternative zum Erarbeiten einer Lösungsstrategie mit eigener Beteiligung mit positiven Zielvorgaben, Umsetzungsarbeit mit Verantwortungslast und drohendem Scheitern etc. Tatsächliche Misstände kann man sogar noch schonungslos analysieren und damit Recht haben! Nur der eigene Anteil daran wird klein gesehen.
►(Selbst)verleugnung: Man könnte sich ja mehr für die Probleme vor Ort interessieren (Kommunalpolitik), dort könnte man sich auf seine eigenen Lebenserfahrungen beziehen. Das erscheint vielen aber zu bescheiden; sie halten sich selbst nicht für „entscheidend“, „zuständig“. Das hat mit einer Selbstgeringschätzung zu tun, die sich nicht auf die realexistierende eigene Erfahrung zu beziehen traut; die, fürchtet man, ist zu popelig und man verfällt immer wieder dem Glanz der großen Themen, bei denen man nur mitreden kann, wenn man Fakten erfindet oder irgendwelchen anderen, günstig erscheinenden, glaubt. Die „Solidarität“ der Selbstverleugner besteht im „gemeinsamen“ Folgen einer Leitfigur, -idee, -… ↔ selber managen, selber formen, selber Tradition lebendig erhalten.
►Contra: Insbesondere die letzten 3 Punkte führen zur Contraposition: g e g e n etwas zu sein, gegen das andere Lager, gegen die Zustände, anstattt f ü r etwas. Das rührt einerseits aus der negativen Grundstimmung her, andererseits ist es einfacher, etwas zu torpedieren als zu bewerkstelligen: das Regime des Negativen.
in der Gesellschaft:
Gruppenegoismen aller Art, also aller Arten von Gruppen, können sich prinzipiell alltagschauvinistisch, also ziemlich ähnlich wie oben mit den 8 Entgleisungen beschrieben, gebärden . z.B. :
• Rollen-Chauvinismus: Verkäufer-Konsumenten → Autoren schauen auf die Leser herab. Wie manipuliere ich die Leser, (virales Marketing…. ) – man hat dann dumme Leser, manipulierte Tröpfe.
• Lebensstilchauvinismus: Netizens-Citizens
• Mobilitätschauvinismus: s.o.,
• Genderchauvinismus, Orientierungschauvinismus ….
• Berufschauvinismus: „Jeder stinknormale Klempner kriegt für das Anbringen eines Syphons mehr Geld als ich für eine ganze Abendaufführung!“
• Richtungschauvinismus zwischen Linken und Rechten
• Generationenchauvinismus zwischen d e n Alten und d e n Jungen
• Schichtchauvinismus zwischen Proleten und Snobs
• Religionschauvinismus
• Epochenchauvinismus: Das Mittelalter gilt als düster. Das 20.Jahrhundert jedoch zeitigte die grausamsten und größten Kriege, Völkermorde und dogmatischsten Regime. Im Mittelalter gab es in den meisten Regionen ganze Jahrhunderte ohne eine einzige dieser Geißeln. Was durfte man wann wo und was nicht im Vergleich zum 20.Jahrhundert? Wen trafen unter welchen Bedingungen die härtesten Strafen damals und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts.? etc. Konkretisierungen lichten den Wahn des großen allumfassenden Urteils, in diesem Fall nicht des Vorurteils, sondern des Nachurteils.
Alle 8 Entgleisungen findet man auch in den meisten historischen Betrachtungen (Geschichtsbeugung).
Aber allein der Nationalchauvinismus wird (als Nationalismus) diskutiert und wenn man „Chauvinismus“ bei Wikipedia nachschaut oder im Duden, ist er es, der erläutert wird. Der andere „große“ Chauvinismus, der Rassenchauvinismus, läuft unter Rassismus. Am meisten stehen im Moment Extremismus, Fanatismus und Fremdenhass im Fokus der Medien. Man muss aber auch das kleinchauvinistische Entgleisen angehen. Mit zusätzlich zur schulischen auch medialen Einübung von:
richtiger Kategorisierung, Konkretion, Relativierung, mit Einfordern von detaillierten authentifizierten Fakten, Quellen, Analysen und Konzepten, mit dem Heranziehen zu solidarisch zu meisternden handhabbaren Aufgaben, in aufgeklärten Gruppen, Projekten, Arbeit und Geschäft. Zeigen, was Magie ist, was Beschwörung.
in den Herzen:
Wir wollen bedingungslos geliebt werden, das ist ein sehr tiefer, existenzieller Wunsch, nicht unbedingt salonfähig, aber trotzdem vorhanden, und er wird erfahrungsgemäß nur ansatzweise erfüllt. Eine Stufe weniger anspruchsvoll ist der Wunsch, wenigstens wegen einer Eigenschaft geliebt zu werden, die man sowieso hat, oder die leicht zu erlangen ist: z.B. einer Schicht, einer Nation anzugehören. Dieser Wunsch wird dann zwar nur noch vermittelt erfüllt, z.B. durch die öffentlich eingeforderte Liebe zur Nation, oder über eine schichtspezifische Solidarität. Hinter dem „großen“ Chauvinismus steht aber die Hoffnung, eine Eigenschaft definieren zu können, auf Grund derer man Vorzüge vor anderen hat – was nichts anderes heißt: ohne Bedingung der Konkurrenz zumindest in diesem Punkt, was wiederum eben heißt: relativ bedingungslos.
Scheinbar harmloser sind jene mainstreams, die denjenigen Menschen, die mitschwimmen, einen gewissen Glanz verleihen. Bei Fußballfans z.B. rutscht es schon mal in den Sportchauvinismus ab.
Die Medien promoten den „Bessermenschen“ im Glanz und Glamour des Starkults, wandelnd in Gefilden exquisiten Lebens, unerreichbar für den „normalen Menschen“, oder den Sportler mit gedopten Superleistungen, unerreichbar für den „normalen Menschen“, oder den Superreichen, der mit seinen Aktien rumjongliert wie ein Hütchenspieler, unerreichbar für den „normalen Menschen“.
Wenn Menschen, eine Minderheit, besonderen Lebenswandel realisieren wollen und können, so mag das angehen. Das aber noch zu verherrlichen, weil man darauf spekuliert, dass sich die meisten mit ihnen identifizieren, ist ein Schuss, der nach hinten losgehen kann; der „normale Mensch“, sucht sich dann auch etwas Besonderes. Etwas, bei dem er von Robotern und Apps nicht in den Schatten gestellt werden kann und von anderen Pappnasen schon garnicht. Und dann entgleiten die 8 Entgleisungen beiden: den Medien u n d den Chauvis.
Bitte den Bessermenschen nicht auch noch promoten, hingegen den pragmatischen Gruppen im Lande mehr Glanz verleihen! Zeigen, dass jeder Mensch unabhängig von Mittel oder Titel, Herkunft, Konfession oder Profession, etwas Besonderes ist. Die Extreme abbauen! Die Objekte des Neides entmystifizieren!
Den „Nährboden des Alltagschauvinismus“ habe ich hier verständnisbemüht beschrieben. Den Alltagschauvinisten selbst gegenüber gilt, was für alle gilt:
Beim Sport ist Fowlen ein Disqualifikationsgrund, lasst uns unser Leben sportlich nehmen.
Kennt jemand eine Plattform auf der das gegenwärtig diskutiert wird? Wenn nicht, dann werden wir hier selbst aktiv, in den Kommentaren der Referenzen dieses posts auf facebook und google oder auf twitter unter #Alltagschauvinismus. (siehe Icons am Kopf der Seite) Sollten verehrte LeserInnen meines Blogs auf keiner dieser Plattform vertreten sein, geht auch das etherpad „Chauvinismen“ – dort können alle sofort anonym mitmachen. Na, und hier unten ↓ geht’s natürlich auch. Den Gesamtüberblick über die umfangreiche Diskussion :) hat man aber dann nur hier in diesem Post.